Ambivalenzen: Julie Hayward + Ruth Schnell im TANK 203.3040.AT
Patricia Grzonka

Julie Hayward und Ruth Schnell, die beiden Künstlerinnen, die in dieser Ausstellung zusammengespannt wurden, verbindet bei genauerer Betrachtung wenig. Ihre unterschiedlichen Ansätze führen zu zwei ganz verschiedenen Kunstauffassungen. Julie Haywards Skulpturen entfalten eine übergreifende Präsenz im Raum, während Ruth Schnells Medieninstallation ohne die vermittelnde Technik der HoloLens nicht zu erfassen wäre. Trotz dieser augenscheinlichen Diskrepanz empfindet man die Ausstellung als stimmig, und man fragt sich daher, woran dies liegen mag. Die Zusammenstellung der Arbeiten von Schnell und Hayward ist Teil der fortlaufenden Reihe „Strategische Komplemente“, die Graf+Zyx seit einigen Jahren im TANK 203.3040.AT veranstalten und deren Absicht gerade darin besteht, solche Diskrepanzen hervorzurufen. Diese „Komplemente“ stellen einerseits überraschende und ungewöhnliche Konstellationen dar, andererseits sind es aber bei näherer Betrachtung auch einleuchtende Verbindungen zwischen zwei künstlerischen Positionen.

Woran liegt es also, habe ich mich gefragt, dass unser Auge und unsere kognitive Fähigkeit geradezu intensiv daran arbeiten, Parallelen zwischen den extremsten Gegensätzen – und als solche würde ich die zwei Positionen von Schnell und Hayward bezeichnen – zu ziehen? Ist es, weil wir mit dem Unverstandenen, dem Disparaten, nicht umgehen können? Tendiert unser Geist dazu, Ordnung zu schaffen, wenn Chaos droht, um uns nicht in die sprichwörtliche Finsternis der geistigen Umnachtung zu stürzen?

Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman spricht in seinem Buch „Moderne und Ambivalenz“ genau von jener „Suche nach Ordnung“, durch die Benennungs- und Klassifizierungsfunktionen unserer Sprache, welche Ambivalenz vermeiden möchte, da sie Unbehagen erzeugt.  Aber, und auch davon handelt Baumans Buch, Ambivalenz lässt sich letztlich nicht vermeiden, denn die postulierte Ordnungsleistung kann von unserem Bewusstsein nie vollständig erledigt werden (und auch von keinen anderen Instanzen). Mit anderen Worten: Wir können in unserer Wahrnehmung keine vollständige nicht ambivalente Situation kreieren und daher auch niemals vollständige Klarheit darüber herstellen. Dennoch aber möchte unser Bewusstsein zumindest kleinere Ordnungseinheiten schaffen, um in dieser Situation (behaglicher) akzeptieren zu können, dass dieses Bestreben nur teilweise gelingen kann. Wir scheitern also lieber unambivalent, als dass wir Unbehagen über unser Unvermögen Klarheit herzustellen in Ambivalenz empfinden.


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Es lassen sich daher auf dieser Basis des Ambivalenten Dinge über die Arbeiten der beiden Künstlerinnen festhalten, die kontingent sind. Denn auch die intuitive Assoziation, die die KuratorInnen Graf+Zyx dazu gebracht hat, diese Künstlerinnen zusammenzubringen, entsprach einer künstlerischen Logik, der wir damit ebenfalls auf der Spur sind. Der Reiz dieser Komplemente zwischen Hayward und Schnell liegt in ihrer scheinbaren Unvereinbarkeit: Hier die sehr körperhaften, als unikate Objekte konzipierten Skulpturen Julie Haywards, da die virtuelle Umsetzung zweier theoriekritischer Wissenschaftsbiographien in der Arbeit von Ruth Schnell. Schnell arbeitet mittels HighTech-Anwendung mit Datenbrille und Hologramm, während Haywards Skulpturen zwar körperhaft sind, aber auch mit einer deutlich technoiden Anmutung spielen.

Positionen und Raum

Die vier Skulpturen Julie Haywards spielen mit unterschiedlichen Präsenzen im Raum. Eine gewisse komplementäre Verwandtschaft verbindet die beiden neuesten Arbeiten: „I can’t see you 1“ und „I can’t see you 2“ von 2019. Bei beiden wird ein Gerüst aus Alurohren mit unterschiedlichen Elementen kombiniert: Bei „I can’t see you 1“ mit einer 6 mm dicken Gummischicht, die wie eine Wanne zwischen dem Gerüst und zwei  lackierten MDF-Platten hängt, und bei „I can’t see you 2“ mit einer Schaumgummimatte, die von ebensolchen MDF-Platten festgehalten wird. Auffällige Teile, auf die sich auch der Titel der Arbeiten bezieht, sind Stülpformen, die wie Augäpfel mal nach innen, mal nach außen „schauen“. Die zwei Objekte sind komplementär in der Ausrichtung ihrer Hohlformen, die die herausgezogenen Stielaugen mal in sich hinein- und mal aus sich herausschauen lassen.

Die größte Arbeit „Again and again“ (2017) weist eine Höhe von 2,4 m auf. Sie scheint fast am Boden festzukleben und möchte sich gleichzeitig irgendwie fortbewegen. Aus der Nähe betrachtet erkennen wir zudem ein elastisches Gewebe, das die vier Schaumgummi – Beine straff umspannt. Die Skulptur scheint zu kippen, wie in Bewegung festgefroren. Es ist kein Zufall, dass solche organischen, amorphen Assoziationen auftauchen: Der Ursprung von Haywards Arbeiten – und darin ist sie äußerst konsequent – sind Entwürfe, die frei am Papier entstehen und die so lange bearbeitet werden, bis sich die „Form aus dem ursprünglichen Gedanken herausgeschält hat“, wie Hayward mit Verweis auf Jean Starobinski sagt.  Sie arbeitet nach diesen Zeichnungen am dreidimensionalen Konzept und an der Planung ihrer manuellen Ausarbeitung, die oft langwierig und komplex ist. Der Reiz dieser Arbeiten liegt in ihrer Hin- und Hergerissenheit zwischen biomorpher und futuristischer Anmutung zugleich. Das Zeichenhafte, ein narratives, anschauliches Moment, das auch emotional und psychisch fordernd ist, liegt ihnen zugrunde.

Ist „Again and again“ eher als festgefrorener Biomorphismus konnotiert, so gehen die drei anderen Werke in eine etwas andere Richtung: Nicht nur „I can’t see you 1 / I can’t see you 2“ wirken maschinenaffiner in ihrer Anlage, auch „Miss Needy“ (2016) ist eine Komposition aus MDF, Aluminiumrohren und mit Softlack beschichteten Polyesterformen, die ähnliche zylinderförmige Hohlformen bilden wie beim jüngeren Gegensatzpaar.

Die materielle Basis aus der Haywards Skulpturen bestehen, ist eine Welt für sich: mit großer Präzision in der Planung und Herstellung entsteht eine feine Kombination aus verschiedensten Sonderanfertigungen, wie z.B. der laser geschnittenen Aluminiumscheiben, der speziellen „Gummifüsschen“, oder der Buchbinderhülsenmuttern, mit denen manche Teile von „I can’t see you 1 und 2“ zusammengehalten werden. Zusätzlich zu diesen vier skulpturalen Arbeiten zeigt Hayward zwei Fotografien aus ihrer Serie mit vorgefundenen Raumsituationen, hier zwei Aufnahmen eines verlassenen Bunkers in Frankreich.

Julie Haywards Arbeiten beschwören eine intensive Parallelwelt, die aus einem Fundus der menschlichen Psyche geschöpft ist. Ihr Oszillieren zwischen organisch-biomorpher und futuristisch-maschineller Formensprache lassen sich dabei in keine gegenständliche Begriffen fassen – aber gerade dadurch erweisen sich diese Objekte als autonom. Die Künstlerin stellt mithin etwas dar, das sonst nicht sichtbar wäre – und in dieser Verschiebung der Realität von der psychischen auf einen physischen Körper, der nicht unserer menschlichen Hülle entspricht, liegt ihre Bedeutung.


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„CombatScience Augmented“ von Ruth Schnell lässt im Gegensatz dazu eine virtuelle Parallelwelt entstehen. Die Arbeit, entwickelt 2018 als Augmented Reality Installation, basiert auf einer für das Volkstheater Wien konzipierten performativen Collage von 2008. Sie wurde in einem neuen sensorischen Setting mit der Datenbrille und HoloLens realisiert. Mit diesem avancierten technischen Tool, der AR-Datenbrille ohne Kabel, können wir uns frei im Raum bewegen. Schnells digitale holografische Miniaturen und Szenarien interagieren damit in gewisser Weise mit den Skulpturen Haywards, indem sie sich um sie legen und zwischen ihnen verteilen.

Ruth Schnell greift für ihre Installation die Lebensgeschichten des Chemikers Fritz Haber (1868-1934) und seiner Frau, der ebenfalls in Chemie promovierten Clara Immerwahr (1870-1915), auf. Diese dienen als Folie, aus der verschiedene Ereignisfelder entwickelt werden, die sich Fragestellungen rund um die Rolle von Wissenschaft zwischen Forschungsethik und Machbarkeitsdenken widmen.

Zitat aus einem Text von Ruth Schnell: „Fritz Haber und Clara Immerwahr waren ein Paar mit entgegengesetzter Geisteshaltung: Haber setzte im Ersten Weltkrieg sein Wissen als Chefdesigner des deutschen Gaskriegs für die Kriegsführung ein, die Pazifistin Immerwahr beging nach dem ersten Giftgaseinsatz deutscher Truppen Suizid. Die Entfremdung der Eheleute hatte weit früher begonnen: Die ambitionierte Chemikerin Clara Immerwahr, eine der ersten Frauen in Deutschland mit Promotion, wurde aus dem Labor hinaus- und in die Rolle der Ehefrau und Zuarbeiterin hineingedrängt.“

Durch die Datenbrille sehen wir eine Art Kammerspiel, in dem ein Schauspieler und eine Schauspielerin Textfragmente und Monologe aus den Biografien der Wissenschaftler*innen sprechen. Aktualisiert wurde die Installation durch Textobjekte und autonome Soundclouds, welche die Implikationen, oder vielmehr die gesellschaftlichen Konsequenzen von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen – den heutigen technologischen Anwendungen – thematisieren.

Ruth Schnell verbindet in dieser Arbeit neueste Technik mit einem expliziten Aufruf zu Verantwortung und Handlungskompetenz. Ethisches Bewusstsein stellt sie der älteren Technologie genauso wie der jüngsten, heutigen gegenüber. Sie warnt damit vor Machbarkeitsfantasien, die sich allein auf die Rolle von wissenschaftlichen Konzepten berufen, ohne deren Auswirkungen für den Menschen zu berücksichtigen. Schnells Arbeiten in ihrer unterschiedlichen Medialität haben sich immer wieder mit den Ressourcen und Möglichkeiten gegebener, vorhandener Technologien auseinander gesetzt, aber genauso auch mit den „durch Technologie bedingten Transformationsprozessen von Bild-, Körper- und Raumrepräsentationen“ (Schnell).  Ihre Arbeit beschäftigt sich mit einer Phänomenologie der visuellen Wahrnehmung in enger Verknüpfung mit immersiven Raumsettings, durch die sich „Realität“ neu begreifen und konfigurieren lässt. Und so erweitert sie auch in dieser Installation, in der sich virtuelle Elemente mit physisch greifbaren überlagern, den Erfahrungsraum von digitaler und realer Präsenz.

Im Space von TANK 203.3040.AT interagieren die verschiedenen Ansätze beider Künstlerinnen miteinander. Über die AR-Datenbrille verbinden sie sich in einem neuen Möglichkeitsraum. Ambivalenzen vermeiden, heißt hier auch neue Beziehungen zulassen.

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Ich bleibe mit meinen Gedanken in der Ausstellung und kehre zu unserer Ausgangsfrage zurück: Der Beobachtung, dass unser Bewusstsein es offenbar nicht lassen kann, Parallelen zwischen scheinbar Unvereinbarem zu konstruieren. Dass diese Beobachtung zu den basalen Einsichten der Geistesgeschichte nach der Renaissance zählt, zeigen unzählige Beispiele in der bildenden Kunst, wo gerade in solchen Amour-Fou-Konstellationen eine Erholung zum mentalen Ordnungszwang gesehen wurde. Der Reiz lag und liegt noch immer darin, dem strengen geistigen Korsett überraschend ausweichen zu können und in der Divergenz und Differenz der Logiken einen eigenen „sinnlosen“ Sinn zu entwickeln.

Dies zum Beispiel ganz im Sinne des Manierismus, bei dem auch von einer notwendigen Uneinheitlichkeit, einer Vereinigung der Gegensätze, der „discordia concors“, bzw. umgekehrt von  einer „concordia discors“, der Uneinigkeit des Einigen, gesprochen wurde. Gerade in der Singularität der jeweiligen Arbeiten können wir so assoziativ Gemeinsamkeiten auftauchen lassen – ohne Vollständigkeitsanspruch. Oder – um ein anderes Beispiel aus der Kunstgeschichte zu nennen – wir können im Sinne der surrealistischen Poesie „von der Schönheit des zufälligen Zusammentreffens eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“ sprechen.